
Veni Vidi Wadenkrampf
Vom Jetzt habe ich für den Moment genug
Ich sitze nicht gern. Ich bin gern in Bewegung und ich liege, wenn auch sehr selten, auch mal auf dem Sofa. Aber sitzen – das lernte ich spätestens in der Schule zu hassen. Sport ist für mich Bewegung. Rennen, springen, balancieren, mit Bällen spielen. Das mache ich gern und wahrscheinlich auch ziemlich gut.
Aber Sport im Sitzen? Endlos die immer gleiche Bewegung mit den Beinen wiederholen? Radfahren, das hieß für mich als Mensch ohne Führerschein, schon immer von A nach B durch die Stadt zu kommen und dabei möglichst nicht zu sterben. In meinem Leben habe ich bisher ungefähr 20 Fahrräder besessen. Meistens ein Haufen Blech mit kurzer Lebensdauer. Am Ende geklaut oder einfach entsorgt. Mittel zum Zweck, tickende Zeitbomben.
Im Sommer schaue ich gern die Tour de France. Wohl mehr aus Voyeurismus. Anderen Menschen beim Leiden zusehen, kann durchaus Zufriedenheit erzeugen. Aber ich selbst habe noch nie auf einem schnellen Rad gesessen. Fahrradfreaks waren mir stets unsympathisch. Wenn ich mit einem meiner Blechhaufen in eine Fahrradwerkstatt ging, erntete ich in der Regel abfällige Blicke. Teilweise dachte ich, man würde direkt die Polizei rufen, da mein Rad angeblich eine „Gefahr für den Straßenverkehr” sei.
Nun sollte ich unter die Radreisenden gehen. 700 Kilometer. Start Bologna. Ziel Rom. Einmal quer durch die Toskana in sieben Tagen. Mehr Zeit hatte ich als berufstätiger Familienvater nicht rausschlagen können. Mein dienstältester Freund Stefan überredete mich. Wie hatte er das geschafft? Er ist kein besonders guter Redner. Kein Menschenfänger. Niemand, der anderen seinen Willen aufzwingt. Es wurde nach Jahren einfach mal wieder Zeit für eine gemeinsame Unternehmung, für eine Wiederbelebung meiner längsten und engsten Freundschaft.
Nach dem Abitur, vor mehr als 20 Jahren, beschloss ich den Jakobsweg zu gehen. Ich nahm Stefan mit. Wir liefen wochenlang nebeneinanderher und taten das, was wir am besten gemeinsam können: Lachen und schweigen. Heute macht er Ausdauersport, läuft Marathons, fährt tausende Kilometer Rennrad im Jahr. Dieses Mal werde ich mich in seine Welt begeben. Das bin ich ihm schuldig.
Die Vorstellung, jeden Tag acht bis zehn Stunden auf dem Fahrrad zu sitzen, ist grauenvoll. Doch die Vorfreude ist allein durch unser Reiseziel riesig. Es sind nicht nur die Gedanken an das vermeintliche Dolce Vita, gutes Essen, Gastfreundschaft, wunderschöne Städte, Dörfer und Bilderbuchlandschaften. Es ist vor allem die Erinnerung, die sich schon länger, wie ein warmes und angenehm brennendes Tuch um mich gelegt hat. Die Erinnerung an die Familienurlaube der 90er und 2000er Jahre, als alles noch an seinem angestammten Platz zu sein schien. Als man während der langen Autofahrten noch stundenlang aus dem Fenster schaute und nicht von Bildschirmen und unzähligen Parallelwelten umgeben war. Klebrige, zähe Sommerferien. Ein heißer, gelangweilter Kopf voller Träume und Ideen.
Wie würden dieselben Orte 20 bis 30 Jahre später wirken? Wie haben sie sich verändert? Und wie haben wir uns verändert? Gibt es unsere Freundschaft noch? Oder versuchen wir sie durch das Auffrischen der immer gleichen Anekdoten nur künstlich am Leben zu erhalten? Können wir neue Erinnerungen schaffen? Zugegeben, diese Gedanken kamen zunächst nur selten auf. Die Wochen vor der Reise waren deutlich pragmatischer: Wo kriege ich ein gutes Fahrrad her? Was brauche ich alles? Wo werden wir übernachten? Und wie kommen wir dort hin, so ohne Führerschein?
Andere Gedanken kamen mir erst in den Sinn, als ich aufhörte zu planen. Einfach mal machen, das sollte der einzige Plan sein. Allerdings möchte ich diese Reise nicht zwingend im Jetzt verbringen. Die gesamte westliche Welt redet von Achtsamkeit, vom bewussten Leben im Moment. Das verbale Arschgeweih der 2020er Jahre.
Doch zum Verständnis braucht es doch vor allem einen Rückblick. Das Zulassen von viel zu lange unterdrückten Schmerzen. Mitgefühl mit dem kleinen Jungen, der gedankenverloren Steine in den Gardasee wirft. Der sich fragt, ob man glücklicher ist, wenn man auf italienisch denkt. Der 150-mal versucht, einen Ball in den Mülleimer auf dem Zeltplatz zu schießen und sich dabei selbst kommentiert. Der andächtig eine brummende Katze krault und die ganze Welt in diesem zerzausten Fellknäuel mit den gelben Augen sieht.
Vom Jetzt habe ich für den Moment genug. Ich lebe mein Leben so bewusst wie möglich. Die Regeln meines Alltags bestimmen meine Gedanken und mein Verhalten. Selbst wenn ich in einem Hamsterrad lebe, dann doch in einem äußerst komfortablen, bunt geschmückten Hamsterrad. Kinder zwingen dich zum Jetzt. Und zur Wahrheit gehört auch, dass dieses Jetzt nicht immer schön ist. Wie oft leben wir nicht im, sondern gegen das Jetzt? Dieses Jetzt ist oft anstrengend, voller Menschen und ein Produkt aus Kompromissen. Letztendlich bin ich, wie alle Eltern, Sklave der eigenen Kinder. Wir haben uns das so ausgesucht. Aber machen wir uns nichts vor: Unser Leben ist an den meisten Tagen nicht mehr selbstbestimmt und schon gar nicht einfach. Endlose Pflichten und Sorgen, zwischen denen wir kaum merklich doch immer wieder schöne Momente sammeln. Also lebe ich im Jetzt, wie ein wildes Tier im Zoo, das schon längst nicht mehr ohne die Vorzüge seiner unnatürlichen Umgebung leben möchte.
Das Jetzt ist laut, aufdringlich und oberflächlich. Natürlich brauchen wir es, um Erinnerungen überhaupt erst zu ermöglichen und uns weiterzuentwickeln. Doch das Jetzt ohne Vergangenheit und Zukunft ist nur ein eindimensionaler Popsong, eine billige Klickbait-Schlagzeile,
ein leuchtendes Werbeplakat an einem stillen Bergsee. Wenn das stundenlange Sitzen auf einem Zweirad etwas Gutes haben könnte, dann vielleicht, dass meine Gedanken schlendern können. Oder eben springen, von einer löchrigen, unter den Rippen piksenden Erinnerung zur nächsten. Ohne Anspruch auf Wahrheit und ohne Ziel.